Die Richtlinien

Wie in der traditionellen Stillemeditation ist die Kultivierung der Erleuchtungsfaktoren – einschließlich, aber nicht beschränkt auf Achtsamkeit, Ruhe und Sammlung – in der Praxis des Einsichtsdialogs grundlegend.

Die sechs Richtlinien des Einsichtsdialoges dienen als primäre Unterstützung für die Kultivierung dieser meditativen Geistesqualitäten. Sprache und Beziehung können uns in gewohnte Arten der Interaktion und Reaktion hineinziehen. Die Richtlinien – Innehalten, Entspannen, Öffnen, sich Einstimmen auf das Entstehen, Tief Zuhören und die Wahrheit sprechen – nehmen die Form einfacher Worte an, die vergegenwärtigt werden können, um das meditative Achtsamkeit zu fördern, selbst während wir den Anforderungen des Sprechens und Zuhörens begegnen.

Die Kurzbeschreibungen auf dieser Website führen Sie in die Richtlinien ein. Im Zusammenspiel bieten sie eine wesentliche Unterstützung für das Erwachen inmitten der vielfältigen Herausforderungen und Geschenke der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie fördern auch die Stabilität des Geistes, die notwendig ist, um sich tief auf die in den Kontemplationen angebotenen Weisheitslehren einzulassen.

Innehalten: Temporäres Innehalten; Heraustreten aus gewohnheitsmäßigen Gedanken und Reaktionen in die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks; Achtsamkeit.

Innehalten ist „ein vorübergehendes Anhalten“. Wenn wir innehalten, also eine Pause einlegen, hören wir vorübergehend mit dem auf, was wir tun, sagen oder denken, und verlagern unsere Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Erfahrung. Wir erinnern uns daran, zu bemerken, wie dieser Moment ist, zu fragen „Was ist das? … Wie ist es jetzt?“

Das Innehalten soll das Festhalten unterbrechen – die Tendenz des Körper-Geistes, alles zu ergreifen oder weg zu schieben, was die Sinnestore von Klang, Berührung, Geruch, Geschmack und Gedanken berührt. Wir halten inne, weil das Unterbrechen automatischer Gewohnheiten entscheidend ist für jegliche Verhaltensänderung und damit auch für einen Weg, den Herzens-Geist zu befreien. Um die Möglichkeit zu haben, etwas verändern, müssen wir die Dynamik der konditionierten Tendenzen stoppen, die typischerweise unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen antreiben. Ohne Bewusstheit und Wahlmöglichkeit kann es keine signifikate Veränderung geben. Deshalb lautet die erste Richtinie des Einsichtsdialogs Innehalten.

Wie in der individuellen stillen Praxis erhält man die durch das Innehalten eingeladene Bewusstheit über den gegenwärtigen Moment am leichtesten durch die Wahrnehmung der Empfindungen im Körper, z.B. indem man die Aufmerksamkeit auf den Atem richtet, den Kontakt zur Unterlage oder an den Füßen wahrnimmt. In der zwischenmenschlichen Praxis kann der gegenwärtige Moment auch dadurch gefunden werden, indem man auf das achtet, was man sieht und hört (z.B. auf das Gesicht und/oder die Stimme des Meditationspartners).

Entspannen: Einladung den Körper und Geist zu beruhigen; Annehmen sämtlicher Empfindungen, Gedanken und Gefühle, die vorhanden sind; Akzeptanz.

Wenn wir mit anderen zusammen sind, erwischt uns das Innehalten oft in gewohnheitsgesteuerten Gedanken oder emotionalen Reaktionen. Wenn wir den Gewohnheitsmustern mit Entspannen und Akzeptanz begegnen, können sie unterbrochen werden. Gedanken und Zwänge können erkannt und betrachtet werden, anstatt reflexartig nach ihnen zu handeln – ungeachtet ihren Folgen.

Die erste Ebene des Entspannens lädt dazu ein, alle Anspannungen in Körper und Geist zu lösen, die wir willentlich lösen können. Übliche Bereiche, wo Anspannung gefunden und gelöst werden kann, sind Augen, Kiefer, Schultern und Bauch. Beispiele für Anspannung im Geist sind Erregung, Aufregung, Reaktivität und das Festhalten an Ideen oder Emotionen, zusammen mit der Aktivität und dem Vorwärtsdrang, die sich aus einem geschäftigen Leben ergeben. Wir bringen Achtsamkeit in jene Körperteile, in denen wir Anspannung feststellen, und lassen, wo immer möglich, zu, dass sich die Anspannung entspannt, indem wir den Körper dazu einladen, los zu lassen, nicht zu kämpfen oder sich zu wehren, sondern eher weich zu werden, nachzugeben. Wir laden auch zu einer Beruhigung ein, zu einer Besänftigung des Herzens-Geistes.

Oftmals kann Anspannung im Körper-Geist nicht vollständig gelöst werden. Deshalb besteht die zweite Ebene des Entspannens darin, alle Empfindungen, Emotionen oder Gedanken zu akzeptieren – anzunehmen und die Dinge zu lassen, wie sie sind – auch wenn sie nicht angenehm sind.

Wenn Anspannung vorhanden ist, entsteht Unbehagen, wodurch wir weniger bereit sind, mit der Erfahrung in Kontakt zu bleiben, vor allem wenn diese Erfahrung in irgendeiner Weise unangenehm ist. Die Einladung sich zu entspannen und anzunehmen, kann daher die Fähigkeit erhöhen, die Dinge zu kennen und mit ihnen zu verweilen, wie sie sind. Entspannen hält Achtsamkeit aufrecht.

Öffnen: Ausdehnung der Achtsamkeit vom Inneren auf das Äußere; Räumlichkeit; Beziehungsebene; Gegenseitigkeit.

Mit Öffnen weiten wir das Bewusstsein und die Akzeptanz, die im Innehalten und Entspannen kultiviert werden, über die Grenzen unserer eigenen Haut hinaus aus und beziehen andere Menschen und die Umwelt mit ein. Mit dem Fokus nach Innen richtet sich die Achtsamkeit auf die Wahrnehmung dieses Körpers, dieser Gedanken, dieser Emotionen. Nach Aussen ausgeweitet bezieht Achtsamkeit die Welt ein, die wahrgenommen wird und auf die reagiert wird: die physische Welt – das Aussehen, die Worte und die Handlungen anderer. Achtsamkeit, die sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet ist, schließt die Beziehungsebene zwischen uns und anderen mit ein. Das Subjekt – ich und das Objekt – du oder es, sind im Beziehungsmoment miteinander verbunden. Wir sind uns dessen bewusst, was Martin Buber „das Dazwischen“ nannte – den unaufhörlichen Fluss des Selbst und der anderen.

Öffnen kann durch eine Reihe von Schritten kultiviert werden, beginnend mit dem Bewusstsein und der Empfänglichkeit für innere Erfahrungen, die im Innehalten und Entspannen kultiviert werden. Dieses Bewusstsein wird stabilisiert, indem man sich auf einen bestimmten Bereich des Körpers konzentriert und dann ausdehnt, um den ganzen Körper mit freundlichem Bewusstsein zu füllen. Zum Öffnen erlauben wir diesem Gewahrsein, sich über die Hülle der Haut hinaus auszudehnen, indem wir einen erweiterten Hörsinn wahrnehmen und dann sanft die Augen öffnen, um das Gesichtsfeld mit einzubeziehen. Wenn wir einem Meditationspartner gegenüber sitzen, werden wir ermutigt, die Qualität des weichen und allgemeinen Sehens beizubehalten. Wenn sich der Körper-Geist in diesem Beziehungskontakt entspannt, kann sich das Bewusstsein mit dem spezifischen Anderen, der vor einem sitzt, niederlassen. Dieselbe Art von annehmender, achtsamer Bewusstheit, die unserem eigenen Körper-Geist innerlich angeboten wurde, umfasst nun auch den anderen.

Die im Öffnen kultivierte Ausdehnung der Achtsamkeit auf die Welt außerhalb unserer selbst öffnet die Tür zur Gegenseitigkeit: Sie ist die Grundlage für zwischenmenschliche Meditation.

Einstimmen auf das Entstehen: Sich ohne Agenda auf den Beziehungsmoment einlassen; sich der Unbeständigkeit von Gedanken und Gefühlen bewusst sein; der Erfahrung erlauben, sich zu entfalten, im Wissen, dass sie nicht kontollierbar ist; „Nicht-Wissen“.

Das Entstehen ist der Prozess, durch den die komplexen Dinge, die wir erleben, entstehen und vergehen – und zwar als Ergebnis zugrunde liegender, beitragender Faktoren, die sich unserer Kontrolle entziehen. Einstimmen bedeutet, dieser Instabilität sensibel und achtsam beizuwohnen. Die Richtlinie Einstimmen auf das Entstehen ist eine Einladung, die Vergänglichkeit selbst zum Gegenstand der Praxis zu macht – sich auf das Erscheinen und Verschwinden der Erfahrung einzustimmen. Sie ermutigt uns, in den „weiß-nicht-Verstand“ einzutauchen und uns an eine Schwelle zu begeben, wo wir nicht wissen, was als Nächstes geschehen wird – sei es innerlich oder in Beziehung.

Einstimmen auf das Entstehen unterstützt uns dabei, die Dinge so zu sehen, wie sie sind – instabil, ständig erscheinend und verschwindend. Es fordert die Neigung des Geistes heraus, die Welt einzufrieren zu wollen, um sie vorhersagen und kontrollieren zu können. Es kann auch das Leid zum Vorschein bringen, welches sich daraus ergibt. Wie die stille Meditation schnell offenbart, wissen wir nicht, welcher Gedanke als nächstes in unserem Geist auftauchen wird. Deshalb können wir sicherlich nicht wissen, was im Geist eines anderen auftauchen wird. Zu glauben, wir könnten vorhersagen, was in einem bestimmten Gespräch entstehen wird, ist eine Torheit, die ihren Preis hat. Vorhersagung erfüllt uns eher mit Vermutungen als mit der Wahrheit. Statt andere zu erleben, erleben wir so unsere eigenen Projektionen, und das Potenzial und die Subtilität des Entstehens gehen verloren.

Die Sinne sind das Tor zum Erkennen der Vergänglichkeit. So wie der Körper der feste Boden des Innehaltens ist, sind die sich ständig verändernden Empfindungen der zuverlässigste Weg, sich wieder mit dem Entstehen zu verbinden. Dies kann direkt im Körper erfahren werden, indem man die wechselnden Körperempfindungen ins Bewusstsein holt. Wir können auch ein Bewusstsein für Veränderungen in der Umwelt und in unserem eigenen Leben schaffen, indem wir auch bemerken, wie viele davon sich unserer Kontrolle entziehen.

Tief zuhören: Achtsames Zuhören mit entspanntem und offenem Geist; eröffnet eine ungehinderte Empfänglichkeit für die sich entfaltenden Worte, Emotionen und die Gegenwart eines anderen.

Innehalten – Entspannen – Öffnen – schafft die Voraussetzungen dafür, im gemeinsamen, entstehenden Moment voll präsent zu sein und damit wiederum das Potenzial, aus einem Gewahrsein heraus zuzuhören und zu sprechen. Ohne sorgfältige Beachtung der meditativen Qualitäten verbinden wir Worte mit Konzepten und Emotionen, welche die Achtsamkeit und Konzentration stören können. Mit meditativer Gewahrsein hat jedoch der geschickte Gebrauch von Sprache, der mit den Richtlinien Tiefes Zuhören und Sprechen der Wahrheit etabliert wurde, das Potenzial, das Dhamma direkt in unsere gelebte Erfahrung bringen – hier und jetzt. Dies gilt heute genauso wie zur Zeit des Buddha.

Tiefes Zuhören bedeutet, mit einem freundlichen Gewahrsein zuzuhören, voll präsent und empfänglich für die Gaben des Sprechenden. Es ist ein Zuhören mit der Großzügigkeit der Geduld –unbeeindruckt von der persönlichen Tagesordnung. Dies ist uns durch die Praxis des Innehaltens, Entspannens und Öffnens möglich. Wir müssen unser Zuhören mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Worte des Sprechenden nicht durch einen internen Dialog unterbrechen, in dem wir überlegen, wie wir darauf reagieren könnten. Mit dem tiefen Zuhören erkennen wir den Wert des Beobachtens unserer inneren Fabrikationen der Geschichten anderer an, um sie zu verstehen und uns in sie einzufühlen. Wir kultivieren jedoch auch die Fähigkeit, eine nicht identifizierte Achtsamkeit des Körpers, der Emotionen und Gedanken wieder herzustellen. Dadurch können wir auch dann eine geerdete Präsenz aufrechterhalten, wenn Geschichten fesselnd oder Beziehungen emotional aufgeladen sind.

Die Wahrheit sprechen: Artikulation der Wahrheit der eigenen subjektiven Erfahrung mit Achtsamkeit; Unterscheidung dessen, was gesagt werden soll inmitten des Universums der Möglichkeiten; eröffnet eine hohe Sensibilität für die Stimme des Augenblicks, die durch den Praktizierenden „spricht“.

Die Wahrheit sprechen fließt aus den anderen Richtlinien des Einsichtsdialoges heraus. Sie ruht in der Achtsamkeit des Innehaltens. Sie stabilisiert sich mit dem Entspannen. Sie engagiert sich zwischenmenschlich mit Öffnen und gewinnt Flexibilität mit Einstimmen auf das Entstehen.

Im Einsichtsdialog bedeutet, die Wahrheit zu sprechen, so gut wir können, die subjektive Wahrheit unserer inneren Erfahrung in Worte zu fassen. Sowohl Achtsamkeit als auch Unterscheidungsvermögen sind wesentlich, um die Wahrheit zu sprechen. Wir wissen, dass Erfahrung durch Achtsamkeit in der Frage „Was ist jetzt wahr?“ lebt. Durch die Anwendung von Unterscheidungsvermögen erreichen wir nur das, was nützlich ist, nicht mehr. Wenn wir die Wahrheit sprechen, ändert sich das, was wahr ist und gesprochen werden soll, während wir sprechen, und es entwickelt sich in jedem Innehalten, während sich die subjektive Erfahrung entfaltet.

Das Sprechen bringt eine Fülle von Gewohnheiten mit sich, wie wir denken und wie wir mit anderen Menschen umgehen. Das Sprechen mit Achtsamkeit, deckt diese Gewohnheiten auf und ermöglicht ihre Befreiung. Das Sprechen in die Meditation zu bringen, schlägt eine Brücke zwischen der Praxis der stillen Meditation und dem Alltagsleben und macht die Früchte der formalen Praxis und des Dhamma-Studiums dort verfügbar, wo wir in der Welt agieren. Das Sprechen in Meditation kann auch dazu beitragen, der Tendenz entgegenzuwirken, Meditation als Vehikel zu benutzen, um schwierige Aspekte der menschlichen Erfahrung zu umgehen oder zu vermeiden, indem man sich in der Stille und Abgeschiedenheit der traditionellen Praxis versteckt.



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